Der Sandmann

Gruselstunde kombiniert mit Ideen der Aufklärung
Marburger Hörtheatrale feierte Premiere mit „Der Sandmann“
Die Marburger Hörtheatrale bringt einen Schauerroman von E.T.A. Hoffmann auf die Bühne: ,,Der Sandmann“. Die lnszenierung wird begleitet von beeindruckenden Soundeffekten.
Marburg. Schaurig und düster wirkt der Lomonossowkeller beim Betreten. Die Zuschauer werden mit einer beunruhigenden Geräuschkulisse empfangen. Neben Blätterrauschen hört man eine eindringliche Stimme, die aus Immanuel Kants Schrift„Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ vorliest. Bereits jetzt wird deutlich: Bei dieser Gruselstunde mit E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ geht es auch um große Ideen.
Die Hörtheatrale Marburg hat diese Erzählung unter der Regie von Daniel Sempf neu erarbeitet. Neben Sempf wirken Franziska Knetsch und Michael Köckritz als Schauspieler mit. Sie alle sind Profis, spielen und haben lang am Hessischen Landestheater gespielt. Am Freitag war im nahezu ausverkauften Lomonossowkeller Premiere.
Die Erzählung, 1816 erschienen, handelt von Nathanael, einem jungen Studenten, der in einem Wetterglashändler einen alten Kollegen seines Vaters namens Coppola wieder zuerkennen glaubt. Früher habe dieser mit seinem Vater zusammen alchemistische Experimente durchgeführt, bei denen der Vater umgekommen sei, erfahren die Besucher. Nathanael, der heimlich den Experimenten beiwohnte, erlebte dabei ein Kindheitstrauma und hält Coppola für den Sandmann, ein Fabelwesen, das Kindern ihre Augen raubt, wenn sie nicht zeitig ins Bett gehen.
Oft ist in der Erzählung unklar, was real ist, und was sich bloß in Nathanaels Kopf ereignet. Diese Unsicherheit macht sich die Inszenierung zu eigen, um die Zuschauer auf eine Traumreise zu schicken.
Heine über Hoffmann: ein Angstschrei in 20 Bänden
Die Soundeffekte wirken überwältigend, ganz und gar im Sinne des Wortes. Selbst für diejenigen, die den Stoff kennen, erscheint der Verlauf plötzlich unberechenbar. Mal dröhnt es unbeherrscht laut aus den Boxen und wirre Lichter kündigen etwas Unheilvolles an. Mal ist es seelenruhig und stockfinster und man hört den Sitznachbarn an den Nägeln kauen. Der Dichter Heinrich Heine charakterisierte einst Hoffmanns Werk als einen „entsetzliche(n) Angstschrei in zwanzig Bänden“. Die Inszenierung lebt im Geiste dieses Dichterwortes, doch sie ist auch mehr als das und erkennt das kritische Potenzial der Erzählung. Hoffmann, der im militärisch und bürokratisch dominierten und von der Zensur geprägten Preußen lebte, konfrontierte seine Leser mit einer Figur, die ihren Mitmenschen ausgeliefert ist. Denn kein Einziger findet sich, der sich Nathanaels Sorgen annehmen würde. Alle vernünfteln über ihn hinweg, erteilen ihm Denkverbote und nehmen seine Leiden nicht ernst. Schließlich führt dies zur Eskalation.
Es schließt sich die Frage an, ob die vom Sandmann aufgeworfenen Probleme etwas mit unserer Gegenwart zu tun haben. Es gibt durchaus auch heute irrationale Eruptionen in unserer Gesellschaft, sei es die Leugnung des Klimawandels oder das Erstarken der Fremdenfeindlichkeit in Europa und weltweit. Wird sich nicht auch hierin eines Vernunftgebrauchs bedient, der sich darin erschöpft, den Gegner argumentativ niederzuknüppeln so wie es Nathanael letztlich in „Der Sandmann“ ergeht?
von Vladimir F. Ewert / Oberhessische Presse