Hörtheatrale

Die Hoertheatrale

Im Meeresrausch der Sinne

Hörtheatrale feierte Streaming-Premiere von Melvilles „Moby-Dick“ mit 360-Grad-Klangerlebnis

Marburg. Eine dunkle Stimme kriecht durch die Gehörgänge in die Brust, in den Magen. Ein Timbre, das die Nackenhaare strammstehen lässt und Gänsehaut erzeugt. Ja, man sollte Daniel Sempfs Inszenierung von Herman Melvilles Klassiker „Moby-Dick“ unbedingt mit Kopfhörern hören, will man ein einmaliges Klangerlebnis fühlen, das durch Mark und Bein geht.

Doch von vorne: Die Hörtheatrale geht pandemiebedingt neue, multimediale Wege. Vor Publikum im Lomonossov-Keller spielen? Corona macht’s unmöglich. Auch an eine Freiluftvorstellung wie im vergangenen Jahr mit dem Horror-Klassiker „Frankenstein“ auf der Waldbühne ist derzeit nicht zu denken.

Also hat sich das Team um Daniel Sempf etwas ganz Besonderes einfallen lassen: eine Videoperformance mit 360-Grad-Sound. Sempf inszeniert Melvilles 1851 erschienenen Roman um Kapitän Ahab, der besessen ist von seiner Rache am „Weißen Wal“, an den er im Kampf ein Bein verloren hat. Ein über 1 000 Seiten starker Klassiker der Weltliteratur gebündelt in einem einstündigen, außergewöhnlichen Erlebnis.

Der Zuschauer, der sich online ein Ticket bucht und dann gut vier Stunden Zeit hat, den Stream anzuschauen, wird optisch in den schummrig beleuchteten Keller entführt, der glatt als Londoner Walfang-Spelunke durchgehen würde. Rauch, Lichteffekte und verschiedene Kameraeinstellungen entführen in ein andere Welt. Doch es ist der Sound, der das Kopfkino perfekt macht: Möwen kreischen, der Mast knarzt in den tosenden Wellen. Von backbord ein lautes „Wal, da bläst er!“, von steuerbord spritzende Gischt. Unter Deck brummen raue Männerstimmen rhythmische Seashantys.

Klangerlebnis ist perfekte Illusion

Das 360-Grad-Klangerlebnis ist die perfekte Illusion, ein Meeresrauschen der Sinne. Schließt man die Augen, meint man gar, salzige Meeresluft auf den Lippen zu spüren. Daniel Sempf bringt den faszinierten Zuschauer – und noch faszinierteren Zuhörer – einfühlsam und unnachahmlich aufs Walfangschiff Pequod. In seiner Textfassung reduziert Sempf das Melville’sche Epos auf seine Quintessenz, auf die Frage nach den Abgründen des menschlichen Seins. „Die Furcht ist ein Gefängnis, dessen Mauern ihr durchbrechen müsst. Für mich ist der Weiße Wal diese Mauer“, ruft Kapitän Ahab gegen den Wind. Thomas Streibig spricht nicht, er lebt den hasserfüllten, wahnsinnigen Walfang-Kapitän auf seiner Rachemission, in seinem existentiellen Kampf gegen die entfesselte Kraft der Natur.

Michael Köckritz geht auf in seiner Rolle als humpelnder Prophet Elias: „Hast wohl gar keine Seele? Macht nichts, ich kenne viele, die keine Seele haben. Glückwunsch!“

Sempf selbst brilliert in mannigfachen Rollen: als Erzähler mit sanft sinnierender Stimme, als feister, rumtrinkender und pfeiferauchender zweiter Steuermann – „Hoch die Becher, ihr fröhlichen Zecher“ – oder aber als erster Steuermann Starbuck, der von seinem Gewissen hin- und hergerissen wird. Besonderer Clou: Gefilmt wird dieser Charakter in bester Influencer-Handykamera-Manier – und erzeugt so eine besondere Nähe zum Zuschauer.

Nein, die Videoperformance der Hörtheatrale ist keine pandemiebedingte Notlösung. Im Gegenteil: Es ist eine absolute Empfehlung: Rauf aufs Sofa, rein ins Netz, Kopfhörer auf und Klangerlebnis ahoi!

Quellenangabe: OP Marburg/Ostkreis vom 31.05.2021, Seite 24