Hörtheatrale

Die Hoertheatrale

Auf den Ton kommt es an

Daniel Sempf leitet die Hörtheatrale in Marburg. Der OP gab er einen Blick hinter die Kulissen der aufwendigen Inszenierungen – und erklärt, warum er im Urlaub schon mal die Geräusche von Schweinen dafür aufgenommen hat.

Von Beatrix Achinger

Marburg. Entsetztes Raunen. Manch einer schließt bewusst die Augen in dem Moment, als die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes den schwerverletzten und flehenden Autor Paul Sheldon zwingt, seine Schmerztabletten mit Putzwasser herunterzuspülen. Doch schauriger und entsetzlicher geht in einem Psycho-Thriller von Stephen King immer. Und das Publikum lebt bei der Vorstellung der Hörtheatrale im Kellergewölbe über zweieinhalb Stunden richtig gebannt mit. „Sie“ heißt der auf dem Stoff basierende Roman des Erfolgsautors. „Da wird ein Schriftsteller von einer geistesgestörten ehemaligen Krankenschwester gefangengehalten. Sie war mein Delirium. Sie war meine Metapher für meine Sucht. Eine verrückte Krankenschwester“, hatte Stephen King in einem Interview einmal gegenüber dem „Spiegel“ gesagt.

Zu Beginn ist sie noch die Lebensretterin, denn Wilkes zieht den Schriftsteller Sheldon aus einem Autowrack und beginnt ihn in ihrer Wohnung zu pflegen. Als sie aber als „Fan Nummer Eins“ im neuesten Buch erfährt, dass darin die Protagonistin Misery stirbt, zwingt sie den Schriftsteller, ein weiteres Buch zu schreiben und Misery wieder zum Leben zu erwecken. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen dem von Michael Köckritz gespielten Schriftsteller und der ehemaligen Krankenschwester alias Franziska Knetsch ein Kampf um Leben und Tod. Wie funktioniert das als Hörtheater? Und wie wird’s gemacht? 

 

Alle Soundeffekte sind selbst aufgenommen

„Alle Soundeffekte sind selbst aufgenommen“, schickt der Regisseur Daniel Sempf vorweg. „Die Atmosphären-Geräusche sind produziert.“ Für die Szene mit dem Putzeimer habe er vorher im Lomonossow-Keller ganz real Wisch- und Wasser-Geräusche mit Mikros aufgenommen. „Field Recording“ nennt sich diese Art Audio-Aufnahme, bei der Sempf direkt vor Ort die passenden Sounds einfängt. So übrigens nicht nur am Spielort selbst: Beim Spaziergang im Wald oder auch im Urlaub habe er ein Mikrofon immer dabei. In dem Dialog zwischen Thomas Streibig, der in „Misery“ die Sprechrolle des Polizisten übernimmt, und Hauptdarstellerin Franziska Knetsch hat er für den Hintergrund Geräusche von Schweinen eingefügt. „Die habe ich im Urlaub bei einer Schweine-Farm in der Schweiz aufgenommen“, schildert Daniel Sempf weiter. „Klar muss man die Geräusche bearbeiten, das Hintergrundrauschen wegbekommen. Da muss man sich mit Filterwerkzeugen auskennen.“

Und die in passenden Situationen aufgenommenen Sounds wandern dann in seine eigene „Sound Library“. „Ich glaube, die Regengeräusche für unsere Produktion habe ich in Georgien aufgenommen“, erinnert sich der Sound-Designer. Denn aus einer solchen „Sound Library“-Sammlung seien wiederum die Atmosphären-Geräusche für „Misery“ produziert. Die „Sound Library“ könne man so programmieren und spielen wie ein Klavier, um Geräusche in verschiedenen Tonhöhen zu produzieren.

Der am Hessischen Landestheater Marburg festangestellte Schauspieler, der für Podcast-Produktion verantwortlich zeichnet, lässt sich aktuell per Fernstudium zum Audio-Ingenieur weiterbilden. Als Schauspieler habe er sich immer viel mit Sprache beschäftigt und mehr und mehr sei ihm bewusst geworden: „Man kann mit der Soundwelt unheimlich viel machen. Man muss nur wissen, wie.“ Daniel Sempf fährt fort: „Wenn man auf einem Klavier zum Beispiel ein Streichorchester nachspielen will, dann klingt das immer unecht. Daher muss man sich etwa mit Anschlag und Einsatz auskennen und natürlich mit den Software-Instrumenten.“

William Goldmans Theaterstück „Misery“ nach Stephen Kings Stoff aufzuführen, barg im heimeligen Lomonossow-Keller allein schon beim Platz gewisse Herausforderungen: „Man braucht in dem Stück einfach zwei Räume“, erklärt der Regisseur. Zur Verfügung stehe dabei eine Spielfläche von gerade mal vier mal drei Metern. Also entschied sich das Team um Sempf und die Schauspieler Franziska Knetsch und Michael Köckritz dafür, die kleine Fläche mit Zugwänden zu trennen – was dann wiederum eine psychologische Ebene beifügt. „Wenn Knetsch als Annie Wilkes die Zugwand schließt, dann verschließt sie sich gleichsam auch, sie macht innerlich zu“, so Daniel Sempf.

Und damit das Publikum einen Eindruck vom Raum bekommt, ist die Spielfläche mit sechs Mikrofonen ausgestattet. „Wir haben das Geräusch der Zugwände als Eigengeräusch mitgenutzt.“ Außerdem produzieren Köckritz und Knetsch auch während der Inszenierung live Geräusche. Ein Mikrofon auf dem Arbeitstisch mit Notenpult des Sheldon-Darstellers Köckritz ermöglicht es etwa, dass er den Sound von Streichhölzern oder das Rascheln des Feuers direkt in die Hörspiel-Kulisse mit einfügen kann.

Einzelne Dialoge nahm Sempf in seinem „Home Recording Studio“ auf, „der Raum ist akustisch optimiert“, erklärt er. Er dürfe möglichst wenig Hall, möglichst wenig Eigen- oder Hintergrundgeräusche haben, „aber er darf auch nicht tot klingen.“ Und dazu gebe es spezielle „Absorber“ und „Diffuser“ für Wände und Decken, die die Gegebenheiten für eine optimale Soundqualität bieten. „Wir verbinden in unseren Produktionen Hörspiel-Effekte mit Theater. Der Zuschauer sieht die Schauspieler, wie sie die Texte lesen und was sie damit machen. Aber auch, was die Texte mit den Schauspielern machen“, erklärt der Hörtheatralen-Leiter Sempf. Während der Vorstellungen hat er einen Laptop, drei iPads, Tastatur und natürlich das Theaterskript vor sich und kümmert sich neben Licht und Einspielern eben um die ganze Technik.

Das Ergebnis des Ganzen? In erster Linie kam nach einer vierwöchigen Probenzeit – die Idee war schon vor einem halben Jahr geboren – eine Vorstellung heraus, die die Zuschauer im Kellergewölbe in ihren Bann zieht. Eine Produktion mit starken Szenen: Wenn etwa Knetsch als Annie Wilkes ganz beachtlich den immer weiter hervorbrechenden Wahnsinn spielt und gerade in Schlüsselszenen das Licht und die akustische Atmosphäre solche Effekte so gekonnt ergänzen, dass man als Zuschauer ins Stocken gerät.

Als Köckritz sich als Paul Sheldon im Lauf der Handlung an jede Idee klammern muss, um den Wahnsinn zu überleben und sogar seine von Sempf gesprochene innere Stimme dabei noch Noten der Komik in der aufgeladenen Gemengelage bereithält. Dass das Team der Hörtheatrale aus den örtlichen Gegebenheiten das Maximale herauszuholen scheint, von Sound- und Lichteffekten über Dramaturgie bis Schauspiel – das Publikum rühmte die Darbietung mit lebhaftem Applaus. Empfehlung!

Quellenangabe: Oberhessische Presse vom 22.03.2024, Seite 2