Hörtheatrale

Die Hoertheatrale

Entspanntes Gruseln

Die Hörtheatrale präsentiert auf der Waldbühne den Horror-Klassiker „Frankenstein“

 Oberhessische Presse, 11.08.2020

Nebel wabert über die sturmumtoste kleine Bühne. Ein Nebelhorn ertönt. Franziska Knetsch tritt auf, bei knapp 30 Grad Außentemperatur am Freitagabend eingehüllt in ein warmes, weißes Kapuzenshirt und einen alten Mantel, dessen Kragen sie bibbernd an den Hals drückt. Die drei Darsteller von der Marburg er Hörtheatrale, neben Knetsch sind dies Daniel Sempf und Michael Köckritz, nehmen die rund 100 Besucher auf der Waldbühne mit auf ein Expeditionsschiff im Eismeer. Dort erzählt der Schweizer Wissenschaftler Viktor Frankenstein (Sempf) seine tragische Geschichte. Sie handelt von wissenschaftlicher ‚Neugier, von Hybris, von Liebe und Verantwortung, Rache und Tod. 1818 erschien Mary Shelleys Frankenstein. Heute ist der Schauerroman ein Klassiker des Horrorgenres, vielfach verfilmt und mehrfach für Bühne und Oper adaptiert.

Anders als viele Filme bleibt Hörtheatrale-Chef Daniel Sempf nah an der Romanvorlage. Er hat den Roman geschickt gestrafft und sich in seiner dramatischen Fassung auf die zentralen Momente beschränkt. Er führt die Zuschauer im Zeitraffer durch die Geschichte, weil er auf viele Elemente des Briefromans wie ausführliche Landschaftsbeschreibungen weitgehend verzichtet. Viktor

Frankenstein ist ein junger, ambitionierter Wissenschaftler. Er entdeckt den „Funken des Lebens“ und spielt Gott: In seinem Labor an der Universität Ingolstadt erschafft er aus Teilen von toten Menschen eine lebende Kreatur. Ihre „Geburt“wird mit Blitz und Donner, Licht und Schatten geschickt in Szene gesetzt. Doch Frankenstein ist angewidert von seinem Geschöpf. Es ist hässlich, monströs. Er wendet sich ab, verstößt sie. Die verstoßene Kreatur lernt schnell. Sie sucht Anschluss, wird jedoch überall von den Menschen zurückgewiesen und gejagt. Und bald wird sie zum Mörder – anfangs wider Willen, später, nachdem Frankenstein ihr eine Gefährtin verweigert, ganz gezielt. „Wenn ich nicht Liebe verbreiten kann, will ich Furcht säen“ sagt die Kreatur. Sie wendet sich gegen ihren Schöpfer, will ihn zerstören, indem sie seine Liebsten nach und nach umbringt. Je länger das Stück dauert, desto klarer wird in dieser kompakten Version: Sowohl Viktor als auch die Kreatur sind Opfer und Täter zugleich.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2009 besetzt die Marbur­ger Hörtheatrale mit ihren Produktionen eine Nische, die inzwischen äußerst beliebt ist: Sie macht Live-Hörspiele mit sehr beeindruckenden Soundcollagen und gekonn­ten Lichteffekten. Aufgeführt werden die Stücke durchweg von professionell ausgebilde­ten Schauspielerinnen und Schauspielern. Sowohl Daniel Sempf‘ als auch Franziska Knetsch und Michael Köckritz sind oder waren Ensemble­mitglieder des Hessischen Landestheaters. In Franken­stein sprechen sie teilweise komplett frei, greifen ab und an dennoch auf die Textbü­cher zurück. Das ist in diesem Theaterformat durchaus üb­lich.

„Frankenstein“ ist einmal mehr eine aufwendige, sehr sehens-und vor allem hörens­werte Produktion, ein Gegen­entwurf zu den hektischen Twitter-Tiraden und Social­ Media-Auftritten und auch gegen das Überwältigungski­no: Man lernt Zuhören, man kann die Augen schließen und im eigenen Kopfkino die Fan­tasie schweifen lassen, ge­steuert von einer schönen Sprache und tollen, geschulten Stimmen. Dass dies gut an­kommt, hat der Hörtheater­sommer eindrucksvoll ge­zeigt: Fast alle Vorstellungen auf der Waldbühne waren ausverkauft. Auch für „Fran­kenstein“ gab es am Freitag langanhaltenden Beifall.

Daniel Sempf sucht jetzt händeringend weitere Open­-Air-Aufführungstermine, denn das Stammhaus der Hör­theatrale, der Lomonossow­keller, ist in Corona-Zeiten viel zu klein.

von Uwe Badouin

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