Hörtheatrale

Schöne neue Welt

nach dem Roman von Aldous Huxley

11

November

Gemeinschaftlichkeit. Einheitlichkeit. Beständigkeit.

„Brave New World“ nannte Aldous Huxley seinen Zukunftsroman in Anlehnung an eine Textstelle aus Shakespeares Sturm. "Wackere Neue Welt" oder auch "Schöne neue Welt". Wie schön diese Zukunftswelt wirklich ist, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Die Handlung spielt im Jahre des Ford 632. Ein scharfzüngiges Wortspiel, dass der Übersetzung Widerstand leistet. Im Englischen, wo Ford und Lord ganz ähnlich klingen, wird viel deutlicher, dass Ford an die Stelle Gottes, des Herrn, getreten ist. Nach ihm, nach diesem Schöpfergott der technischen Welt, zählt die daraus entstandene wackere neue Welt ihre Jahre.

Freier Wille? Ach, kommen sie, ist doch schon längst überwunden!

Aldous Huxleys Roman entstand 1932. Seine etwas düstere, utopische und durchaus auch humorvolle Vision einer zukünftigen Gesellschaft ist beeindruckend aktuell. Mit dem Spürsinn des Schriftstellers für die Zukunft, schrieb er eine Geschichte über eine Weltgesellschaft, die sich an den Rand des Abgrunds bringt und aus diesen Trümmern eine neue Ordnung schafft. Doch eben diese Ordnung – die schöne neue Welt – ist bei Huxley kein besserer Entwurf, sondern ein neuer Ausbund an irrsinnigen Verwicklungen und Regeln. Wobei, ist das wirklich so neu? Huxley zeigt uns eine Welt, die den Über-Kapitalismus huldigt. Bei ihm hat sich das Primat der Wirtschaftlichkeit und der Verwertbarkeit, der Nützlichkeit zur alles beherrschenden Maxime fortentwickelt. Der freie Wille ist abgeschafft, die Gesellschaft auf einem ständigen, staatlich verordneten Drogentrip, Krankheit und Unglück gelten als überkommen. Kunst und Kultur sind überwunden.
In diese Welt stolpert John, „ein Wilder“ hinein, ein Fremder, Neugieriger, ein Shakespeare-Fan, der sein Glück sucht in einer Welt, die ihm noch unbekannt ist, die ihm aber alles verspricht. Aber was kann sie ihm wirklich bieten? 
Mit viel Situationskomik und Spaß an Zukunftsvisionen, denn anders kann man das, was kommen mag, nicht ertragen, erzählen drei wunderbare Schauspieler und Schauspielerinnen die Geschichte von einer Welt, 600 Jahre entfernt, die vielleicht gar nicht so weit entfernt ist.

11

November

Schöne neue Welt

Sa. | 20:00– 21:45 (inkl. Pause) | Lomonossowkeller

Eine Produktion mit starken Szenen: Wenn etwa Knetsch als Annie Wilkes ganz beachtlich den immer weiter hervorbrechenden Wahnsinn spielt und gerade in Schlüsselszenen das Licht und die akustische Atmosphäre solche Effekte so gekonnt ergänzen, dass man als Zuschauer ins Stocken gerät.

Von Beatrix Achinger, Oberhessische Presse / vom 22.03.2024, Seite 2

Presse

Mit Soma wird die Welt erst schön

Hörtheatrale hat den Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley auf seine Kernthemen reduziert

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Marburg. Ganze Generationen ackerten sich am Gymnasium durch Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Das war nicht schön, und es war auch nicht sonderlich neu, sondern las sich eben wie ein Roman aus den 1930er-Jahren, der die dystopische Geschichte einer Weltgesellschaft im Jahr 2540 erzählt. Daniel Sempf hat mit seinem Team von der Hörtheatrale Marburg den Stoff von allem literarischen Ballast befreit und das real existierende Bühnenpersonal auf zwei Personen reduziert: Franziska Knetsch und Thomas Streibig sind als Weltcontroller Eloi Tsuki und Mustafa Mond zu sehen, Isabel und Emil Streibig, Victoria Schmidt, Michael Köckritz, Christine Reinhardt sowie Daniel Sempf leihen den per Video-Einspielern zu sehenden Charakteren ihre Stimmen. Viel passiert auf der Bühne im Lomonossow-Keller – gerade so viel, dass auch Zuschauende ohne Huxley-Kenntnisse der Handlung zu folgen vermögen. Darin liegt die Stärke der Produktion, die am Samstag zum ersten Mal gezeigt wurde: Konzentration auf den Kern dessen, was Huxley thematisieren wollte – das Schreckensbild einer in Kasten geteilten Gesellschaft, deren Mitglieder sich in ein perfekt funktionierendes kapitalistisches Wirtschaftssystem einzufügen haben. Knetsch und Streibig sind bestens aufeinander eingespielt, nahtlos knüpfen ihre Dialoge an das Geschehen auf der Leinwand und an die Stimmen aus den Lautsprechern an. Die zwei Alphas aus dem Weltaufsichtsrat erklären etwa, wie sich aus einer einzigen Eizelle bis zu 96 tumbe Arbeiter züchten lassen, die völlig zufrieden sind mit ihrem Dasein.

Der sozialpolitische und wirtschaftskritische Sprengstoff des Romans hat eher an Aktualität gewonnen, als dass er sie eingebüßt hätte. Soziale Ungleichheit? Check, gibt’s nach wie vor. Synthetische Reproduktion? Check, In-Vitro-Fertilisation und Klonschaf Dolly lassen grüßen. Reservationen? Check, nennen wir es einfach Neokolonialismus. Soma? Check, die Volksdrogen heißen anders, aber sie wirken. Fühlkino? Check, Porno und Reality-Trash massieren heute geschundene Prekariatsseelen. In der Summe: Viel von dem, was der Autor erdachte, hat sich im Weltalltag eingenistet. Und dabei schreiben wir noch längst nicht das Jahr 2540.

Quellenangabe: OP Marburg/Ostkreis vom 08.02.2023, Seite 24