Marburg. Ganze Generationen ackerten sich am Gymnasium durch Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Das war nicht schön, und es war auch nicht sonderlich neu, sondern las sich eben wie ein Roman aus den 1930er-Jahren, der die dystopische Geschichte einer Weltgesellschaft im Jahr 2540 erzählt. Daniel Sempf hat mit seinem Team von der Hörtheatrale Marburg den Stoff von allem literarischen Ballast befreit und das real existierende Bühnenpersonal auf zwei Personen reduziert: Franziska Knetsch und Thomas Streibig sind als Weltcontroller Eloi Tsuki und Mustafa Mond zu sehen, Isabel und Emil Streibig, Victoria Schmidt, Michael Köckritz, Christine Reinhardt sowie Daniel Sempf leihen den per Video-Einspielern zu sehenden Charakteren ihre Stimmen. Viel passiert auf der Bühne im Lomonossow-Keller – gerade so viel, dass auch Zuschauende ohne Huxley-Kenntnisse der Handlung zu folgen vermögen. Darin liegt die Stärke der Produktion, die am Samstag zum ersten Mal gezeigt wurde: Konzentration auf den Kern dessen, was Huxley thematisieren wollte – das Schreckensbild einer in Kasten geteilten Gesellschaft, deren Mitglieder sich in ein perfekt funktionierendes kapitalistisches Wirtschaftssystem einzufügen haben. Knetsch und Streibig sind bestens aufeinander eingespielt, nahtlos knüpfen ihre Dialoge an das Geschehen auf der Leinwand und an die Stimmen aus den Lautsprechern an. Die zwei Alphas aus dem Weltaufsichtsrat erklären etwa, wie sich aus einer einzigen Eizelle bis zu 96 tumbe Arbeiter züchten lassen, die völlig zufrieden sind mit ihrem Dasein.
Der sozialpolitische und wirtschaftskritische Sprengstoff des Romans hat eher an Aktualität gewonnen, als dass er sie eingebüßt hätte. Soziale Ungleichheit? Check, gibt’s nach wie vor. Synthetische Reproduktion? Check, In-Vitro-Fertilisation und Klonschaf Dolly lassen grüßen. Reservationen? Check, nennen wir es einfach Neokolonialismus. Soma? Check, die Volksdrogen heißen anders, aber sie wirken. Fühlkino? Check, Porno und Reality-Trash massieren heute geschundene Prekariatsseelen. In der Summe: Viel von dem, was der Autor erdachte, hat sich im Weltalltag eingenistet. Und dabei schreiben wir noch längst nicht das Jahr 2540.
Quellenangabe: OP Marburg/Ostkreis vom 08.02.2023, Seite 24