Was die Presse sagt
Was die Presse sagt
Mit einem Theater für die Ohren und Kino für den Kopf sind die Oberstufenschüler der Q1 und Q3 an der Gladenbacher Europaschule in die Weihnachtsferien gestartet. Die „Hörtheatrale” Marburg hatte ihnen E.T.A. Hoffmanns Schauerroman „Der Sandmann“ als Live-Hörspiel mitgebracht und bewies, wie mitreißend nichtvisuelles Theater sein kann.
Schon beim Eintritt in die Sport-und Kulturhalle wurden die Schüler mit der ungewohnten Inszenierung konfrontiert. Denn Sprecherin Franziska Knetsch saß bereits auf einem Hocker inmitten der durch einige Standlichter markierten Bühne, las dort laut aus Kants Vernunftkritik und ließ sich von den hereinströmenden Jugendlichen nicht stören.
Im „Sandmann” spielt Vernunft und Rationalität eine Hauptrolle. Im Kern geht es μm die Frage, wie weit sich Menschen durch Ängste und die daraus entstehenden Gedankenfolgen in ihrer Vernunft beeinflussen lassen. Zentrale Figur ist dabei Nathanael, dessen Gedanken durch die kindliche Gruselgeschichte des Sandmanns so sehr angefeuert werden, dass er schließlich dem Wahnsinn verfällt.
Franziska Knetsch, Michael Köckritz und Daniel Sempf setzten diese Vorlage kongenial in der Hörinszenierung (Regie: Daniel Sempf) um, indem sie Bilder in die Köpfe ihrer Zuhörer pflanzten – nur mithilfe ihrer Stimmen, mit Tönen und Geräuschen. Mit Effekten wie Hall und Stimmverzerrungen unterstrichen sie dabei die Handlung der Geschichte und lenkten ihre Zuhörer geschickt in die der Erzählung eigenen atmosphärische Richtung.
Den Geist in bestimmt Bahnen lenken
Nur ab und an, wenn etwa prasselnde Regentropfen über die Lautsprecher zu vernehmen waren, verstärkten die Sprecher diesen Eindruck, in dem sie unter einem Friesennerz Schutz suchten. Damit vermittelten die drei Darsteller ihrem jungen Publikum genau das, was auch Gegenstand der inszenierten Erzählung ist: dass der Geist beeinflusst und in bestimmte Bahnen gelenkt werden kann. Genauso; wie sie es mit dem Stück taten.
Hinterländer Anzeiger vom 23.12.2022, von Sascha Valentin
Marburg. Schaurig und düster wirkt der Lomonossowkeller beim Betreten. Die Zuschauer werden mit einer beunruhigenden Geräuschkulisse empfangen. Neben Blätterrauschen hört man eine eindringliche Stimme, die aus Immanuel Kants Schrift
„Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” vorliest.
Bereits jetzt wird deutlich: Bei dieser Gruselstunde mit E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann” geht es auch umgroße Ideen.
Die Hörtheatrale Marburg hat diese Erzählung unter der Regie von Daniel Sempf neu erarbeitet. Neben Sempf wirken Franziska Knetsch und Michael Köckritz als Schauspieler mit. Sie alle sind Profis, spielen und haben lang am Hessischen Landestheater gespielt. Am Freitag war im nahezu ausverkauften Lomonossowkeller Premiere.
Die Erzählung, 1816 erschienen, handelt von Nathanael, einem jungen Studenten, der in einem Wetterglashändler einen alten Kollegen seines Vaters namens Coppola wieder zuerkennen glaubt. Früher habe dieser mit seinem Vater zusammen alchemistische Experimente durchgeführt, bei denen der Vater umgekommen sei, erfahren die Besucher. Nathanael, der heimlich den Experimenten beiwohnte, erlebte dabei ein Kindheitstrauma und hält Coppola für den Sandmann, ein Fabelwesen, das Kindern ihre Augen raubt, wenn sie nicht zeitig ins Bett gehen.
Oft ist in der Erzählung unklar, was real ist, und was sich bloß in Nathanaels Kopf ereignet. Diese Unsicherheit macht sich die Inszenierung zu eigen, um die Zuschauer auf eine Traumreise zu schicken.
Die Soundeffekte wirken überwältigend, ganz und gar im Sinne des Wortes. Selbst für diejenigen, die den Stoff kennen, erscheint der Verlauf plötzlich unberechenbar. Mal dröhnt es unbeherrscht laut aus den Boxen und wirre Lichter kündigen etwas Unheilvolles an. Mal ist es seelenruhig und stockfinster und man hört den Sitznachbarn an den Nägeln kauen.
Der Dichter Heinrich Heine charakterisierte einst Hoffmanns Werk als einen „entsetzliche(n) Angstschrei in zwanzig Bänden”.
Die Inszenierung lebt im Geiste dieses Dichterwortes, doch sie ist auch mehr als das und erkennt das kritische Potenzial der Erzählung.
Hoffmann, der im militärisch und bürokratisch dominierten und von der Zensur geprägten Preußen lebte, konfrontierte seine Leser mit einer Figur, die ihren Mitmenschen ausgeliefert ist. Denn kein Einziger findet sich, der sich Nathanaels Sorgen annehmen würde. Alle vernünfteln über ihn hinweg, erteilen ihm Denkverbote und nehmen seine Leiden nicht ernst. Schließlich führt dies zur Eskalation.
Es schließt sich die Frage an, ob die vom Sandmann auf geworfenen Probleme etwas mit unserer Gegenwart zu tun haben. Es gibt durchaus auch heute irrationale Eruptionen in unserer Gesellschaft, sei es die Leugnung des Klimawandels oder das Erstarken der Fremdenfeindlichkeit in Europa und weltweit. Wird sich nicht auch hierin eines Vernunftgebrauchs bedient, der sich darin erschöpft, den Gegner argumentativ niederzuknüppeln so wie es Nathanael letztlich in „Der Sandmann” ergeht?
von Vladimir F. Ewert